»Guten Morgen, Leonora!« Die sanfte Stimme durchdrang ihren Halbschlaf. »Zeit, aufzustehen. Ein freudvoller und produktiver Tag erwartet dich.« Ein leises Surren zeigte an, dass sich die Jalousien öffneten. Sie kniff die Augen zusammen, als die Sonne ihr direkt ins Gesicht schien, und drehte sich auf die andere Seite. »Kannst du mich nicht vorwarnen, wenn du die Fenster aufmachst?«, grummelte sie.
»Du hast das in deiner Morgenroutine so einprogrammiert!«, antwortete piA, ihre persönliche interaktive Assistentin.
»Ja doch, aber wenn die Sonne mir dann genau ins Gesicht –«
»Möchtest du deine Morgenroutine anpassen?«
»Ach vergiss es!«
»Mir ist es leider nicht möglich, zu vergessen. Ich kann lediglich Datensätze de-prio–«
»piA, Klappe halten!« Die Stimme verstummte. Das neuste KI-Modell für alle Lebenslagen, wie die Werbung es angepriesen hatte. Aber die Jalousien nicht so unvermittelt zu öffnen, wenn ihr dann die Sonne gefühlt die Netzhaut verbrannte, das konnte man ihr nicht beibringen. Obwohl sie neben allen vernetzten Haus-Systemen natürlich auch Zugriff auf die Wetterdaten, wie Bewölkung oder auch Sonnenstand hatte. Aber Hauptsache KI konnte millionenschwere Kunst generieren und Bestseller-Romane verfassen. Leonora schlug die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf die Bettkante. »piA, ist Stefan schon wach?«
»Ich nehme an, eine Interaktion ist wieder erwünscht, wenn du eine Frage an mich richtest. Ist diese Annahme korrekt?«
»Natürlich!« Sie seufzte. Auch das konnte sie ihr noch nicht beibringen: diesen salbungsvollen Ton abzustellen.
»Stefan ist nicht im Appartment«, stellte piA nüchtern fest.
»Wann ist er denn gegangen?« Früh aufstehen sah im gar nicht ähnlich.
»Gestern Abend um 22:37 Uhr hat er das Appartment verlassen.«
»Hat er gesagt, wo er hinwill?«
»Stefan hat dazu keine Angaben gemacht.«
»Na klar«, murmelte Leonora halblaut und fragte dann nach: »Und seinen Kommunikator hat er vermutlich wieder abgeschaltet?«
»Ja, sobald er das Gebäude verlassen hatte, wurde das Device deaktiviert.«
»Hmpf«, schnaubte sie. »Gib mir bitte Bescheid, wenn er wieder online ist!«
»Ich werde dich informieren, sobald sein Device wieder aktiviert ist.«
Leonora stand auf und ging auf die Fensterfront zu. Die Frühlingssonne war schon so kräftig, dass sie die Wärme der Strahlen durch ihr seidenes Nachthemd hindurch spürte. Sie blickte hinunter auf die Stadt, die bereits geschäftig wuselte, auch wenn das von hier oben eher niedlich als hektisch aussah. Ihr Appartement im 37. Stock des Future-Towers lag 113 Meter über dem schmutzigen Asphalt des Business-Quartiers. Sie liebte diese Zahlen und hatte genau deshalb dieses Appartement ausgesucht. Stefan hätte lieber das im 44. Stock genommen, das auch verfügbar gewesen wäre. Der Ausblick dort war noch ein wenig spektakulärer. Sie war aber nun mal eine Nerdin und Zahlenmenschin und die Kombination von zwei Primzahlen – 37 und 113 – war einfach zu verlockend gewesen. So hatte sie schließlich Stefan überzeugen können, dass sie im 37. Stock viel glücklicher wäre. Und er wollte natürlich nichts lieber als eine glückliche Frau, denn sie wusste auch ganz genau, wie sie ihn glücklich – oder zumindest zufrieden – machen konnte. So hatte ihre Beziehung ja angefangen. Alles unverbindlich – nur gelegentliche Dates mit gutem Essen und Sex. Überaus guter Sex, zugegeben, aber eben ohne weitere Ansprüche – no Strings attached, sozusagen. Stefan war wohl von Anfang an in sie verliebt gewesen, das hatte sie aber weder erwidert noch wahrgenommen. Oder vielleicht auch nicht wahrnehmen wollen. So hatte es einige Monate gedauert, bis sie eines Nachts, als sie ihn vom Hotelbett aus splitternackt vorm Fenster stehen sah, wie er in Gedanken versunken hinausschaute, feststellte, dass da doch Gefühle waren. Ab da nahm alles seinen Lauf, bis sie vor einem halben Jahr die Wohnung hier kauften. Mit ihrem Job als Lead Developerin in der Entwicklung der KI für die städtische Ampelschaltung und seinem im Management der aktuell erfolgreichsten und milliardenschweren Kunst-KI, konnten sie sich das Appartement problemlos leisten. Nur, wo war er denn die ganze Nacht? Hatte er eine Affäre? In den letzten zwei Wochen war er schon mehrfach erst sehr spät nach Hause gekommen – angeblich, weil er im Büro noch zu tun hatte. Nur seltsamerweise war jedes Mal sein Kommunikator ausgeschaltet.
»Anruf von Katja. Möchtest du ihn annehmen?«, riss piA sie aus ihren Gedanken.
»Ja, annehmen!« Ein kurzes Klicken verdeutlichte, dass die Gesprächsleitung offen war. »Katja, was gibt es?«
»Wir haben hier ein Riesen-Thema mit den Ampelanlagen. Der Lernzyklus heute Nacht hat da einiges zerschossen. Wann kannst du da sein?«
»Bin quasi schon auf dem Weg!«, seufzte Leonora und wandte sich von der Fensterfront ab.
»Danke! Hier brennt echt die Hütte.«
»Bis gleich!«, rief sie mit dem Kopf im Pullover, den sie sich gerade überzog. »Ich sollte in zehn Minuten da sein.« Das war der Vorteil daran, wenn man direkt im Business-Quartier wohnte: die Wege waren kurz und man war nicht auf Verkehrsmittel angewiesen – die eigenen Beine genügten.
»Stefans Kommunikator ist wieder online.«
»Was?!« Leonora schreckte hoch. »Warum störst du mich? Ich hatte doch ausdrücklich gesagt, keine Unterbrechung bis auf weiteres!« Sie schaute auf das Display ihres Kommunikators. Fast zwei Stunden war sie schon mit Katja dabei, das Problem in der Ampelsteuerungs-KI zu beheben, das sich über Nacht eingeschlichen hatte.
»Stefans Kommunikator ist wieder online.«, wiederholte piA ihre Ansage. »Ich habe diese Information als prioritär angesehen und daher deine ungestörte Arbeitsphase unterbrochen.«
»Ja, ja, ist ja gut.«, grummelte sie. »Wo ist er denn gerade?«
»Stefan hat gerade das Gebäude betreten.«
»Okay.«
»Ist irgendwas mit Stefan?«, fragte Katja.
Leonora blickte auf und in Katjas besorgtes Gesicht, die aufgestanden war und sie über die Bildschirme hinweg anschaute. »Ach«,sie seufzte, »er ist gestern Abend losgegangen und war die ganze Nacht nicht zuhause.« Sie schüttelte den Kopf, schloss die Augen und schniefte.
»Was?« Katja schaute sie entgeistert an.
»Und zu allem Überfluss hat er auch noch –«, sie schluckte und unterdrückte ein Schluchzen, »seinen Kommu–«, sie zog geräuschvoll die Nase hoch und die ersten Tränen rannen ihr über die Wangen. »Der war aus!«, stammelte sie mit erstickter Stimme. Katja war um die Tische herumgelaufen und umarmte sie. Da brach es aus Leonora heraus und sie schluchzte, ihr Gesicht in Katjas Oberteil vergraben.
»Das muss nicht gleich bedeuten, dass…« Katja beendete den Satz nicht. Sie strich Leonora über die Haare. »Wir klären das.«, versuchte sie sie zu beruhigen.
Leonora löste sich aus der Umarmung. »Ach, ich weiß auch nicht, warum ich so durchdrehe. Aber er hat sich die letzten Wochen schon so komisch verhalten. Er kam öfter später nach Hause und immer war der Kommunikator aus. Und irgendwie war er entspannter und –«, sie stockte und schaute sich um. Sie waren alleine im Raum, alle anderen Arbeitsplätze waren leer. Katja setzte sich auf den Bürostuhl neben ihr. Leonora fuhr leiser fort: »er war total heiß auf mich.« Sie schaute Katja an, die aber nickte nur. »Das spricht doch eigentlich dagegen, dass er – also …«
»Fremdgeht?«, warf Katja ein.
»Ja, ne andere hat. Oder?«
»Hm. Naja, ich weiß nicht. Irgendwie schon. Oder es macht ihn besonders geil, wenn …«
Leonoras Kommunikator vibrierte. »Anruf von Stefan«, verkündete piA. Leonora streckte sich, schniefte kurz und wischte sich die Tränen aus den Augen. »Wie sehe ich aus?«, fragte sie Katja.
»Er wird’s wohl nicht merken«, stellte diese fest.
»Okay.« Leonora atmete hörbar aus. »Anruf annehmen!«
»Und? Wie lief es?«, wollte Katja wissen, als Leonora wieder das Büro betrat.
»Naja. Er wollte sich entschuldigen, dass er ohne was zu sagen heute Nacht weg war. Er meinte, er hätte einen Anruf bekommen, dass seine Kunst-KI noch kurzfristig ein neues Peta-Pixel-Werk generiert hätte, und sie deshalb noch einiges umplanen müssten für die Vernissage am Wochenende. Aber das erklärt nicht, warum wieder sein Kommunikator aus war und wo er genau war. Er ist ja vorhin erst wieder hierhergekommen.«
»Hast du ihm das gesagt?«
»Nein, ich wollte das nicht jetzt, nicht hier«, sie machte eine kreisende Bewegung mit der Hand, »klären. Das muss ich heute Abend mit ihm besprechen.«
»Soll ich mitkommen?«
»Danke, aber das schaffe ich schon.«
»Falls ich doch kommen soll, sag Bescheid, ja?« Katja schaute Leonora eindringend an. »Du sagst Bescheid!«
»Ja, doch.«
»Gut!« Katja gab sich damit zufrieden. »Ich habe das Problem übrigens gefunden!«, erklärte sie triumphierend. »Du errätst nie, was es war!«
»Okay, was war es denn?«
»Jemand hatte wohl einen Kaugummi auf einen der Ampelsensoren geklebt, so dass der falsche Messwerte erzeugte. Diese Daten haben dann den ganzen Algorithmus in eine komplett falsche Richtung geschoben.«
»Ein Kaugummi?«
»Ja, krass, oder? Hätte nicht gedacht, dass die Sensoren so anfällig sind!«
Leonora verließ nur unwillig das Bürogebäude und machte sich auf den Heimweg. Stefan war schon dort – das hatte ihr piA vor über einer Stunde verraten –, aber sie hatte es so lange wie möglich hinausgezögert, zu gehen. Katja hatte ihr nochmal eindringlich angeboten, zur Unterstützung mitzukommen. Leonora hatte abgelehnt und ihr versichert, sie anzurufen, sollte es nötig sein. Nun ging sie also langsamen Schrittes die knapp 800 Meter zum Future-Tower nach Hause.
»Willkommen im Future-Tower! Aufzug Nummer 3 steht für Sie bereit.«, tönte die Stimme des KI-Concierge, sobald sie durch die Eingangstüre trat. Ihr Kommunikator diente als Schlüssel und Identifikation, wobei auch eine Gesichtserkennung als Fallback verbaut war. Das wusste sie von ihren Kollegen aus der Abteilung Buildings and Interior AI, die sämtliche technische Ausstattung des Future-Tower entwickelt hatten. Als sie in den Aufzug stieg, griff sie sich an den Unterleib. Dort lag ein ungutes Gefühl wie ein schwerer Brocken in ihren Eingeweiden. Die Aufzugtür schloss sich und sie fuhr ihrem Appartement – und damit Stefan – entgegen.
»Es tut mir soo leid!« Stefan trat direkt auf sie zu, als Leonora aus dem Aufzug stieg. Es schien, als wolle er sie umarmen, aber sie machte einen Schritt zur Seite, drehte sich weg und ging auf die Theke im Küchenbereich zu.
»Ich hätte Bescheid sagen sollen. Du weißt, wir haben gerade viel zu tun wegen der Ausstellung, und –« Er stockte, als sie sich umdrehte und ihn durchdringend ansah. »Was?« Er breitete die Hände aus. »Es tut mir leid, es tut mir leid, es–«
»Hältst du mich für dumm?«
Er machte ein verdutztes Gesicht. »Nein! Wie kommst du denn darauf?«
»Die piAs und die Kommunikatoren sind vernetzt, schon vergessen?«
»Ja, und?«
»Damit weiß meine piA, wann du wo bist und auch, wann dein Kommunikator ausgeschaltet ist!«
»Ah.« Er schien zu überlegen. »Du hast also mitbekommen, dass mein Kommunikator ab und zu keinen Akku mehr hatte, meinst du das?«
»Keinen Akku mehr hatte«, sie spie die Wörter beinahe aus. »Genau so etwas meine ich! Du solltest es besser wissen, als dass ich dir so etwas abkaufe!«
»Hör zu: Ich weiß, dass ich zu viel gearbeitet habe in den letzten Wochen, aber du weißt doch, dass die Ausstellung für die Werke unserer Triple-A-I das Milliarden-Geschäft werden kann. Das ist für mich – für uns – essentiell. Wenn das erfolgreich wird, dann können wir uns von meinem Bonus zur Ruhe setzen und müssen nie wieder arbeiten!«
»Ich kenne deine Advanced Art AI! Ich arbeite im selben Unternehmen, hast du das auch vergessen? Das interessiert mich aber gerade nicht, denn hier geht es um uns, um dich und mich!« Sie fixierte seinen Blick. Das folgende sprach sie mit leiser, angespannter Stimme: »Wenn du eine Andere hast, dann sag es mir. Spiel keine Spielchen mit mir, das habe ich nicht verdient! Und das ist auch unter deinem Niveau – zumindest dem Niveau, das ich bisher für deines gehalten habe.«
Seine Augen weiteten sich. Er schüttelte leicht den Kopf und streckte die Arme nach ihr aus. »Leo. Niemals – hörst du – niemals würde ich dich hintergehen. Das könnte und vor allem wollte und will ich nicht! Ich liebe dich!«
Sie ließ die Umarmung mit verschränkten Armen zu, aber erwiderte sie nicht.
»Ich liebe dich und nur dich«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Und will will nur dich!«
Sie schmiegte ihren Kopf an seine Schulter, eine Träne kullerte über ihre Nase auf seinen Pullover. »Ich will dir glauben«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich will, aber noch kann ich nicht – zumindest nicht voll.«
»Damit kann ich vorerst leben.« Er strich mit der Hand über ihren Rücken.
Sie löste die Verschränkung ihrer Arme und schlang sie um ihn. »Lass es mich nicht bereuen!«
»Versprochen!« Er drückte sie an sich und sie erwiderte leicht den Druck. Dann löste er die Umarmung, legte seine Hände an ihre Wangen, schaute ihr mit sanftem Blick tief in die Augen und küsste sie schließlich.
Leonora wachte auf, aber nicht, weil piA sie geweckt hatte oder es hell war. Offensichtlich war es noch stockdunkel. Sie schaute auf den Kommunikator, der auf ihrem Nachttisch lag – 23:12 Uhr. Sie drehte sich um und tastete nach Stefan, aber das Bett neben ihr war leer. Jetzt fiel ihr auf, dass sie das leise Surren des Aufzugs gehört hatte, unmittelbar nachdem sie aufgewacht war. Das hatte sie also geweckt: die Aufzugtür. Stefan war wohl wieder unterwegs. Sie biss die Zähne zusammen und schnaubte. »Stefan?«, rief sie in die Wohnung und versuchte dabei angestrengt, möglichst gelassen zu klingen. Keine Antwort! »War ja klar!«, grummelte sie und stieg aus dem Bett. »Stefan?«, versuchte sie es noch einmal, diesmal lauter und ohne gelassen klingen zu wollen. Wieder keine Antwort. »PiA, wo ist er?«, fauchte sie.
»Ich gehe davon aus, dass du Stefan meinst. Er hat gerade das Gebäude verlassen.«
»Klar meine ich Stefan, wen denn sonst!«, pampte sie. »Gib mir Updates, wo er hingeht!«
»Ich werde dich in–«
»Und falls er…«
»–formieren!«
»… seinen Kommunikator ausschaltet!«
»Auch darüber werde ich dich informieren.«
»Gut.« Leonora warf sich die Kleidung über, die neben dem Bett lag. Erinnerungen blitzten auf, wie Stefan sie ihr gestern ausgezogen hatte. Die Umarmung und der Kuss hatten bei ihnen beiden ein Knistern ausgelöst. So wurde aus zärtlichem Küssen heißes Knutschen, bei dem die Hände unter die Oberteile und in die Hosen wanderten und sie von den Körpern abstreiften. Als sie dann im Bett lagen und Stefan sich mit seinen Händen und seinen Küssen ihrem Venushügel genähert hatte, hielt sie ihn zurück. Sie war noch nicht so weit gewesen, dass sie ihm so vertraut hätte. Er schien verständnisvoll und so schliefen sie schließlich aneinandergekuschelt ein. Sie in seinen Armen, mit dem Rücken an ihn geschmiegt.
Sie schüttelte den Kopf und damit die Gedanken an den gestrigen Abend weg.
»Und jetzt ist er losgezogen, um sich zu holen, was er von mir nicht bekommen hat«, murmelte sie. Sie könnte sich ohrfeigen, dafür, dass sie sich so leicht hatte einlullen lassen von seinen Worten. Und beinahe hätte sie auch noch mit ihm geschlafen!
»Stefan hat soeben die U-Bahn-Linie 3 in Richtung Hafenquartier betreten«, informierte piA.
»Danke! Bitte hole mir ein aTax an den Eingang.«
»Autonomes Taxi ist auf dem Weg. Ankunft in ca 49 Sekunden!«
»Dass die immernoch ETA in Sekunden angeben …«, murmelte Leonora und lächelte. »Alles nur, weil die User dann denken, es wäre exakt.« Sie ging auf den Aufzug zu, trat durch die sich öffnende Tür und schaute in den Spiegel: Zerzauste Haare, knittriger Pullover und auch die Hose sah nicht sehr vorzeigbar aus. »Was tust du hier?«, fragte sie ihr Spiegelbild. »So, willst du ihn von dir überzeugen?« Nein, darum ging es hier nicht. Sie musste einfach nur wissen, woran sie war!
Sie verließ das Gebäude und stieg in das aTax, das vor dem Eingang wartete. »Zum Hafenviertel«, wies sie das Fahrzeug an.
»Sehr wohl«, antwortete die sonore Stimme des Taxis, als es anfuhr. »Sie können mir gerne genauere Anweisungen bezüglich des Ziels während der Fahrt geben«, fügte sie hinzu.
»PiA, connecte dich mit dem Taxi und folge Stefan!«
»Verbindung hergestellt, Verfolgung aufgenommen.«, bestätigte piA.
»Stefan hat die U-Bahn an der Haltestelle Alter Hafen verlassen und ist in die Kontorstraße gegangen. Sollen wir ihn einholen oder ihm mit Abstand folgen?«
Pias Stimme riss Leonora aus ihren Gedanken. Sie wandte den Blick vom Fenster ab. Sie hatte hinausgeschaut, aber den grauen, alten Denkmälern vergangener Zeiten keine wirkliche Beachtung geschenkt. »Zeige mir seinen Standort auf dem Bildschirm an, mit unserer Position«, wies sie piA an. Auf der Frontscheibe erschien halbtransparent eine Karte mit einem sich bewegenden Pfeil für das Taxi und einem pulsierenden Punkt, der Stefans Position anzeigte. Die Kontorstraße war die nächste Seitenstraße auf der rechten Seite und er dort vielleicht 50 Meter hineingegangen. »Was will er denn dort?«, fragte sie sich halblaut selbst. »Dort wohnt doch niemand – hoffe ich!«
»Laut Melde-, Handels- und Industrieregister sind dort weder Wohnungen noch Unternehmen oder Produktionsstätten angesiedelt. Also sollten die Gebäude leerstehen«, erklärte piA.
»Ja, das dachte ich mir schon!«, erwiderte Leonora ungeduldig. Jetzt keimte ein Verdacht in ihr auf: War das ein schäbiges Rotlichtviertel? War er so tief gesunken?
»Einholen oder folgen?«, hakte piA nach.
»Folgen!« Er durfte sie jetzt nicht sehen, sonst würde er wieder eine seiner Geschichten auspacken. Das Taxi bog in die Kontorstraße ab, dimmte das Frontlicht und fuhr in Schritttempo weiter.
»Stefan ist in die Speichergasse abgebogen und hat seinen Kommunikator deaktiviert«, informierte piA.
»Aha!« Jetzt mussten sie seinem Ziel sehr nahe sein. Sie waren schon um mindestens drei Ecken gebogen, seit der Kontorstraße und befanden sich tief im alten Hafenviertel. Hier war keine Menschenseele zu sehen.
»Schnell, bring mich an die Ecke und lass mich aussteigen!«
An der Einmündung der Speichergasse angekommen hielt das aTax beinahe lautlos an und öffnete seine Türe. Leonora stieg aus, schritt zur Gebäudeecke und schaute in die Gasse hinein. Etwa 30 Meter entfernt sah sie eine Person mit dem Rücken zu ihr – das musste Stefan sein. Ja, der Gang sah sehr nach ihm aus. Er ging zügig und zielstrebig. Er musste also schon öfter hier gewesen sein. Sie steckte sich einen Funkkopfhörer ins rechte Ohr, zog sich die Kapuze ihrer Jacke, die sie übergeworfen hatte, über den Kopf und folgte ihm.
Nachdem er noch zwei weitere Male in Seitengassen abgebogen war, blieb Stefan vor einer Eisentüre eines der heruntergekommenen Gebäude stehen. Leonora hielt inne und drückte sich instinktiv in den Schatten der Fassade. Gerade noch rechtzeitig, dass er sie nicht sehen konnte, als er sich in alle Richtungen umblickte. Er klopfte dreimal an die Türe und diese öffnete sich quietschend einen Spalt breit. Stefan schlüpfte hinein und die Türe schloss sich wieder ebenso geräuschvoll. Leonora ging zögerlich weiter. Vor der Türe blieb sie stehen. Sie war rostig und wie die meisten Türen, eigentlich alle Gebäude im Allgemeinen hier im alten Hafenviertel, beschmiert mit Graffitis und Kritzeleien. Nur das Schloss war erneuert worden, das konnte man sehen. Es war eindeutig ein modernes Sicherheitsschloss! Sie klopfte zaghaft an die Türe, aber es war kaum ein Laut zu vernehmen. Also klopfte sie noch einmal. Diesmal kräftig und mit der Faust, nicht nur mit einem Finger. Jetzt schien es jemand zu hören, denn die Türe öffnete sich mit dem mittlerweile schon vertrauten Quietschen.
»Real Art?«, fragte eine Stimme, die nach einer weiblichen Person klang.
»Äh, klar«, stammelte Leonora. »Mein Mann ist auch gerade rein.«
»Dann komm!«, forderte die Stimme sie auf.
Leonora schob sich durch den Türspalt. Jetzt konnte sie auch die Person erkennen, die zur Stimme gehörte: Eine jugendliche Frau, vielleicht Anfang zwanzig, mit Dreadlocks und etwas zerschlissenen Klamotten. War das der Typ Frau, auf den Stefan jetzt stand? Und was sollte das mit Real Art? Welche Kunst wurde hier denn geboten? War das vielleicht ein geheimer Swingerclub? Oder fand hier eine Art Sexparty statt?
»Geh ruhig rein, Stefan ist vermutlich hinten in seinem Atelier«, ermutigte sie die junge Frau. »Achso, und ich bin Cassie!« Sie streckte Leonora die Hand hin. »Warst noch nicht hier, oder?«
Leonora ergriff Cassies Hand und diese schüttelte sie. »Äh, angenehm, Leo.«
»Schön, Leo, dann viel Spaß!« Sie ließ Leonoras Hand los und verschwand durch eine Türöffnung, direkt links neben dem Eingang.
»Angenehm, Leo«, flüsterte Leonora, sich selbst nachäffend, und griff sich an die Stirn. Warum hatte sie Cassie ihren richtigen Namen gesagt? Wobei, sie hatte ihr ja schon verraten, dass Stefan ihr ›Mann‹ war, insofern war das vermutlich auch egal.
Cassie steckte den Kopf durch den Perlenvorhang, der den Eingang zum Raum verdeckte. »Ganz hinten ist Stefan. Und keine Angst, dir tut hier keiner was!« Sie zwinkerte ihr zu und zog den Kopf zurück.
Leonora zögerte. Das sah nicht wirklich vertrauenserweckend aus, aber aus irgendeinem Grund glaubte sie Cassie. Sie hatte so eine unschuldige Art. Er wäre hinten, hatte Cassie gesagt, also folgte sie dem schummrig beleuchteten Gang, der sich vor ihr erstreckte. Auf beiden Seiten gab es Räume, in denen offensichtlich Menschen zugange waren, vor Blicken geschützt durch Vorhänge aus Plastiklamellen oder bemalten Tüchern. Aus ihnen drangen Licht und Unterhaltungen in den Gang, aber nach Sex klang das irgendwie nicht.
Nach einigen weiteren verhangenen Türen endete der Gang. Leonora blieb stehen. Rechts und links war jeweils ein solcher Vorhang, aber wo war denn jetzt Stefan? Sollte sie einfach in einen Raum reinplatzen?
»Dieses Gebäude sollte laut allen Registern leer stehen. Die Vorgänge hier sind höchstwahrscheinlich illegal!«, tönte piA in ihrem rechten Ohr. Leonora zuckte zusammen. Schnell schaltete sie ihren Kommunikator aus, das konnte sie jetzt nicht gebrauchen, auch wenn sie dann nicht mehr nachverfolgbar war. Sie lauschte am Vorhang auf der rechten Seite. Da pfiff jemand. Das Lied kam ihr bekannt vor. Ja, das war Where the bluebirds sing, das war ihr Lied. Zu diesem hatten Stefan und sie das erste Mal getanzt – und später auch das erste Mal Sex gehabt. Sollten sie jemals heiraten, würde das ganz bestimmt bei der Trauung gespielt werden. Sie schob den Vorhang zur Seite und betrat den Raum dahinter. Das Lied hatte sie kurz vergessen lassen, warum sie hier war und was sie möglicherweise erwarten würde. Aber das, was sie jetzt sah, war nicht als Möglichkeit in ihren Gedanken vorgekommen.
Stefan stand mit dem Rücken zu ihr. Er trug einen grauen Kittel, der über und über mit bunten Klecksen, Streifen, Hand- und Fingerabdrücken beschmiert war. In der Linken hielt er eine Palette und in der Rechten einen Pinsel. Mit diesem tupfte er pfeifend auf einer großen Leinwand, die an die hintere Wand gelehnt stand. Leonora betrachtete ihn. Ihr Gehirn wollte nicht so recht erfassen, was hier geschah.
»Stefan?«, fragte sie vorsichtig.
Stefan fuhr herum. Sein Pfeifen erstarb und seine Augen weiteten sich. »Leo« Er schaute sich um. »Was …«, stammelte er, »was machst du denn hier?«
»Ich? Was machst du denn hier?«, erwiderte sie, immer noch ungläubig ob der Szene, die sich ihr bot.
»Ich … ich male«, sprach er das Offensichtliche aus.
»Das, äh, sehe ich.«
»Oh, nein!« Er ging auf sie zu. »Dein Kommunikator, du musst ihn ausschalten!« Er deutete hektisch mit dem Pinsel auf ihren Arm.
Sie schaute auf das dunkle Display. »Er ist aus.«
»Gut!« Er atmete erleichtert aus. »Das darf hier nicht aufgezeichnet werden, sonst–«
»Moment!«, unterbrach sie ihn. »Das hier …« Sie deutete in den Raum. »Das hier ist der Grund, warum du in letzter Zeit so oft verschwindest?« Sie blickte ihm durchdringend in die Augen.
»Ja!« Er erwiderte den Blick. »Ja!«, bekräftigte er seine Antwort, diesmal mit Begeisterung in der Stimme. »Genau das!« Er schaute sich um.
»Das hier, das will ich machen! Nur das. Und wenn die Vernissage läuft, wie geplant, dann setze ich mich zur Ruhe und mache nur noch das. Und ich helfe anderen, auch das zu tun! Ich werde eine Stiftung gründen und–« Er hielt inne, da Leonora ihm die Hände auf die Brust gelegt hatte, und schaute sie an.
»Das hättest du mir sagen sollen!« Sie sprach langsam und eindringlich. »Das und deine Pläne hättest du mit mir teilen sollen!« Sie holte tief Luft. »Weißt du, was ich mir für Gedanken gemacht habe? Dass du eine andere hast, oder ins Bordell gehst oder wer weiß wohin!«
Er schluckte. »Es tut mir leid!« Erneut schluckte er. »Lass es mich erklären, bitte!«
»Gut – aber zuhause!«
»In Ordnung!« Er legte Palette und Pinsel beiseite und zog den Mantel aus. »Lass uns gehen.«
Während der Fahrt im autonomen Taxi nach Hause hatten beide geschwiegen. In der Wohnung angekommen, begann Stefan seine Erklärungen:
»Du weißt, seit die KI immer besser geworden ist, ist der Kunstmarkt für echte Gemälde quasi tot. Und Triple-A-I wird das nicht besser machen. Aber in meiner Jugend, da habe ich total gern gemalt und das aufgegeben, weil man keine Aussicht darauf hatte, jemals Geld damit verdienen zu können. Jetzt habe ich die Community von Real Art getroffen und sie haben meine Leidenschaft für die Kunst, für das Kunst-Schaffen neu geweckt!«
»Aber, wieso macht ihr das im alten Hafenviertel in so einem heruntergekommenen Schuppen?«, warf Leonora ein.
»Weil wir die Kunst schützen wollen! Alles, was die KI irgendwo scannt oder aufzeichnet, landet sofort in der Lerndatenbank für Triple-A-I. Die generiert im Sekundentakt tausende Remakes, Mashups und Look-alikes. Damit ist jeder neue Stil, jede neue Idee sofort tot! Das wollen wir vermeiden!«
»Aha. Aber das hilft doch auch nicht, wenn das niemand kauft!«
»Genau das will ich ändern! Ich will einen Safe-Space schaffen für Kunst, die nicht in die KI eingeflossen ist. Eben für Real Art! Wenn wir den erst mal geschaffen haben, werden sich auch wieder Kunstliebhaber dafür interessieren. Und wenn wir die im Boot haben, können diese sich mit ihren Verbindungen und ihrem Geld dafür einsetzen, dass wir die echte Kunst so taggen können, dass die KI sie nicht zum Lernen nutzt. Das ist mein Ziel.«
»Wenn du meinst, dass das klappt.« Leonora war nicht überzeugt.
»Ja, ich meine, dass das klappt. Aber nur, wenn ich nicht vorher auffliege. Denn dann werfen sie mich bei Triple-A-I raus und meinen Bonus kann ich auch vergessen! Deshalb habe ich nichts gesagt. Ich wollte dir nicht aufbürden, mein Geheimnis wahren zu müssen.«
»Du hättest mich trotzdem einweihen müssen. So hast du mir andere Dinge aufgebürdet, die definitiv nicht angenehmer waren!«
»Das verstehe ich jetzt und das war dumm von mir. Ich hoffe, du kannst mir das irgendwann verzeihen.«
»Wir werden sehen.«
»Das Malen macht mich einfach glücklich. Es entspannt mich und dabei bin ich ganz bei mir, im Hier und Jetzt.«
»Deshalb warst du in letzter Zeit auch so gut gelaunt.« Sie schaute ihn verschmitzt an. »Und so geil«, fügte sie hinzu.
»Genau!« Er lächelte und ergriff ihre Hände. »Das macht das Malen mit mir.«
»Immer?«, fragte sie neckisch.
»So gut wie immer.« Er zwinkerte.
»Dann bin ich ja gespannt!« Sie zog eine Augenbraue hoch, löste ihre rechte Hand aus seiner und fuhr ihm damit über den Arm, die Seite hinunter zur Hüfte und schließlich zwischen die Beine. »Tatsächlich!« Sie beugte sich nach vorne und küsste ihn. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr: »Dann zeig mal, was deine Kunst so kann!«
Er packte sie, hob sie hoch und trug sie in Richtung Schlafzimmer. »Sehr gerne!«, sagte er, und legte sie aufs Bett.
© Michael Hitzelberger, April 2025
Bild: „190/366 – Leidenschaft / Passion“ by Boris Thaser is licensed under CC BY 2.0.
Zur Entstehung der Geschichte
Diese Kurzgeschichte entstand im Rahmen einer Ausschreibung zu einer Antologie. Dabei wird ein Thema und Rahmenbedingungen (wie Länge oder Setting) vorgegeben und Autoren können ihre Geschichten dazu einreichen. Aus den eingereichten Geschichten werden diejeningen ausgewählt, welche als Sammelband verlegt werden.
Die Ausschreibung für die ich diese Geschichte verfasst habe, lautete < int:elegance = Zukünfte von Ästhetik und KI > und wurde vom Lektorat Beryll durchgeführt. Thema war die Zukunft von Kunst und KI, im Lichte der aktuellen Entwicklungen bezüglich generativer KI, und sollte im Genre Science-Fiction angesiedelt sein.
Mit meiner Geschichte habe ich es leider nicht in den Sammelband geschafft, möchte ihn aber dennoch hier zugänglich machen.