Magische Spiele

Ich schlage die Augen auf – und kneife sie instinktiv wieder zusammen. Das ist alles viel zu hell und ich noch zu müde. Am liebsten würde ich einfach liegen bleiben, aber mein Mund ist so trocken, dass ich dringend etwas trinken muss. Da drüben auf dem Tisch steht eine Flasche Wasser. Wie cool wäre das, wenn ich die jetzt einfach so rüberholen könnte! Scherzhaft strecke ich die Hand aus, setze einen konzentrierten Gesichtsausdruck auf, während ich die Flasche anstiere, und imitiere so einen Magier, wie man sie aus Filmen kennt. Habe ich mir das gerade eingebildet? Hat sich die Flasche ein Stück bewegt? Ja klar, du kannst zaubern! Hier in der Realität und auch ganz ohne Training. Ich lasse die Hand sinken und schnaube verächtlich. Der Kindskopf in mir will das Spiel aber noch nicht beenden, so dass ich die Hand wieder hebe und mich intensiv auf die Flasche konzentriere. Na komm, beweg dich. Wäre doch cool, wenn das wirklich funktionierte, denke ich dabei. Und da war es wieder! Die Flasche hat sich doch bewegt! Wie zur Bestätigung schwappt das Wasser in der Flasche ein wenig hin und her. Sie muss sich tatsächlich bewegt haben. So ein Schwachsinn, es gibt keine Magie!, protestiert der nüchterne Teil in mir. Aber ich habe es gesehen. Also, noch ein Versuch und diesmal gehe ich es mit der Absicht an, die Flasche tatsächlich zu bewegen. Blick auf die Flasche, Hand ausstrecken und volle Konzentration. Beweg dich, beweg dich, beweg dich! »Beweg dich!“, murmele ich. Zuerst ruckelt die Flasche nur minimal und dann macht sie einen kleinen Satz und rutscht über die Tischkante hinaus. Überrascht über meinen Erfolg verliere ich kurz die Konzentration, so dass die Flasche abstürzt und klirrend auf dem Boden zerschellt.

»Was war das?«, frage ich mich selbst. Wahrscheinlich träume ich nur! Ja klar, ich habe schon öfter über luzides Träumen gelesen. Man ist sich während des Träumens bewusst, dass man träumt, und kann dann die Träume auch beeinflussen. Um das zu überprüfen, zwicke ich mir kräftig in den Unterarm. »Aua!«, entfährt es mir. Spürt man in luziden Träumen Schmerz? Ich bin mir nicht sicher, auch wenn man das allgemein so sagt. Eigentlich auch egal! Vielleicht sollte ich einfach ausprobieren, was ich noch alles kann; ob ich nun träume oder nicht. Die Stelle, an der ich mich gezwickt habe, tut immer noch ein wenig weh und ich reibe mir mit der Hand darüber, um den Schmerz zu vertreiben. Ich bin mir fast sicher, dass ich nicht träume. Dann wollen wir mal sehen, was alles geht. Schwungvoll schlage ich die Decke zur Seite und stehe auf.

Als erstes fallen mir die Scherben ins Auge, die in einer großen Pfütze verteilt auf dem Boden liegen. Vielleicht kann ich das ja auch aufräumen, oder wieder zusammensetzen?, überlege ich. Ich gehe ein paar Schritte auf die Pfütze zu und nehme wieder meine Haltung ein: Gezielter Blick, Hand ausgestreckt und dann volle Konzentration. Es bewegt sich nichts. Also noch stärker konzentrieren – immer noch nichts! Vielleicht habe ich mir das alles doch nur eingebildet? Ich fixiere die größte Scherbe mitten in der Pfütze und – ja was? Was will ich mit ihr eigentlich machen? Gut, erst mal versuchen, sie zu bewegen, denke ich und konzentriere mich auf die Vorstellung, dass sie sich ein Stück zur Seite bewegt. Nach kurzer Konzentration passiert es dann auch: die Scherbe rutscht etwa eine Handbreit und stößt klirrend gegen die nächste Scherbe. »Es geht doch!«, stelle ich halb überrascht, halb erfreut fest. »Cool.«

Mir fällt ein, dass ich ja eigentlich etwas trinken wollte, also gehe ich zum Schrank, hole mir ein Glas heraus, das ich am Wasserhahn fülle, und nehme direkt einen Schluck. Dann gehe ich, indem ich einen großen Bogen um die Überreste der Wasserflasche mache, zum Tisch und setze mich. Also, hier, heute scheine ich zaubern zu können, beginne ich zu resümieren, was sich in den letzten Minuten abgespielt hat. Zaubern – allein der Begriff klingt schon völlig unrealistisch und kindisch, aber ich wische den Gedanken beiseite und führe meine Analyse fort. Anscheinend muss ich mich auf ein Teil, Objekt – Ding – konzentrieren und darauf, was genau ich damit machen will, beziehungsweise, wohin ich es bewegen will. So viel scheint erst einmal klar zu sein. Jetzt gilt es, herauszufinden, was ich noch alles kann.

Ich schaue mich im Raum um, auf der Suche nach neuen Versuchsobjekten. Ok, als erstes ist der Küchenschrank dran. Um genauer zu sein, seine Türe. Ich nehme wieder meine ‚Zauberhaltung‘ ein – ernsthaft jetzt?, fragt die kritische Stimme in meinem Kopf – und konzentriere mich darauf, dass die Türe sich öffnen soll. Dazu stelle ich mir genau vor, wie sie elegant aufschwingt. Zunächst klappert sie nur ein wenig, bis sie sich schließlich lautlos öffnet und offen stehenbleibt. Das hat schon mal gut funktioniert. Das Schließen der Schranktüre klappt sogar noch leichter. Als nächstes sind die Bücher aus dem Bücherregal dran. Eines nach dem anderen lasse ich vom Bücherregal auf den kleinen Tisch neben der Couch schweben. Mit jedem Mal wird es leichter und es gelingt mir immer schneller, die Dinge sozusagen gedanklich zu greifen, um sie zu bewegen.

Vielleicht geht das ja auch ohne Hände?, überlege ich. Da ich die Bücher ja nicht anfasse, sondern sie nur gedanklich bewege, könnte es auch so gehen. Also stecke ich beide Hände in die Hosentaschen und versuche, das oberste Buch, das ganz oben auf dem ungeordneten Haufen Bücher auf dem Couchtisch liegt, zu bewegen. Es dauert kurz, bis ich es schaffe, es hochzuheben, doch dann entgleitet es mir und klatscht zurück auf den Haufen. Mir wird bewusst, dass ich mit der Hand in der Hosentasche dieselbe Greifbewegung gemacht habe, wie vorher. Noch ein Versuch, wobei ich bewusst die Hände in den Taschen zu Fäusten balle. Diesmal klappt es schon besser, aber ich schaffe es nicht, das Buch zurück ins Regal zu legen. Kurz davor plumpst es auf den Boden. Es scheint einfacher zu sein, sich zu konzentrieren, wenn man die Geste dazu gezielt ausführt. Also nehme ich die Hände wieder aus den Hosentaschen und setze meine Übungen fort.

Nachdem ich alle kleinen, leichten Gegenstände, die sich in meiner Wohnung befinden, bewegt habe, mache ich mich an die Möbel. Jetzt bin ich gespannt, ob das klappt! Zunächst hebe ich einen Stuhl an. Es geht erstaunlicherweise fast genauso leicht wie die Bücher, Vasen und anderen Dinge. Ein minimaler mentaler Kraftunterschied, wenn man das so nennen kann, ist da, aber nicht vergleichbar damit, wenn man händisch – physisch? – die Dinge anheben oder bewegen wollte. Motiviert übe ich weiter. Ich hebe alle Stühle auf den Tisch und wieder herunter und hebe dann den Tisch selbst an und stelle ihn woanders im Zimmer wieder ab. Dann ist das Bücherregal dran: Ich befördere es von der Ecke neben der Couch rüber zum Bett und wieder zurück. Das Bett selbst kommt auf den Esstisch und die Couch noch obendrauf. Das Ganze läuft mir mittlerweile richtig locker von der Hand – oder aus dem Kopf? Ganz schön anstrengend. Bei weitem nicht so, wie wenn ich das alles von Hand hätte machen wollen, aber trotzdem!

Zeit für eine Pause. Ich nehme mir ein neues Glas aus dem Schrank – das andere ist während meiner Übungen heruntergefallen und irgendwo in eine Ecke gerollt –, fülle es und nehme einen großen Schluck. Beim Blick durch meine Wohnung überlege ich, was ich als nächstes ausprobieren könnte. Vielleicht kann ich auch Dinge werfen? Fallenlassen ging schließlich auch. Ich muss kurz über meine eigenen Gedanken lachen. Es war einen Versuch wert. Das Buch, das mir vorhin auf den Boden gefallen war, lasse ich hochschweben und stelle mir vor, wie ich es schwungvoll gegen die Wand werfe. Es klatscht auf den Boden und bewegt sich nur minimal auf die Wand zu. So funktioniert das also nicht, muss ich enttäuscht feststellen. Ich lasse das Buch noch einmal schweben und diesmal stelle ich mir vor, dass ich es sozusagen mit Energie auflade, im Prinzip umgekehrt dazu, ein Gummi oder eine Sehne zu spannen. Dann lasse ich mental das Buch samt aufgeladener Energie los. Das Buch schnellt los und rumst gegen die Wand, bevor es polternd zu Boden fällt. »Das war cool!«, sage ich in den Raum hinein. Das muss ich gleich nochmal ausprobieren! Das nächste Buch fliegt nach kurzem ‚Aufladen‘ auch schwungvoll gegen die Wand. Und dann das nächste. Beim letzten Buch brauche ich nur noch einen Augenblick, um die Energie hineinzugeben, die es gegen die Wand schleudert. Das macht richtig Spaß! Jetzt sind wieder die Möbel dran. Ich lasse einen Stuhl schweben und lade ihn wie die Bücher auf, um ihn gegen die Wand zu schleudern. Er bewegt sich ungefähr einen Meter zur Seite und fällt krachend zu Boden. Ok, hier muss ich mehr Energie aufladen, stelle ich fest. Ich konzentriere mich, hebe den Stuhl wieder an und lade ihn bewusst ein paar Sekunden lang auf. Als ich ihn loslasse knallt der Stuhl mit einem Affenzahn gegen die Wand und zersplittert in tausend Teile. Ich schrecke zurück. »Wow!« Das war heftiger, als ich erwartet habe. Es macht also einen Unterschied, wie stark man die Energie auflädt. Gleich noch einen! Aus irgendeinem Grund macht es doch immer wieder Spaß, Dinge kaputt zu machen. Also gleich den nächsten Stuhl. Auch der fliegt krachend gegen die Wand, allerdings bricht diesmal nur ein Stuhlbein ab, weil ich die Energie etwas besser dosiert habe. Ein Stuhl nach dem anderen lasse ich an der Wand zerschellen und werde immer besser darin, genau zu dosieren, wie sehr er dabei kaputt geht. Als nächstes ist eine Vase dran, dann alles Geschirr aus dem Küchenschrank. Vor allen Wänden bilden sich Trümmerhaufen aus Scherben, Splittern und Möbelteilen.

»Tivian, wo bist du?«, höre ich eine Frauenstimme von weitem rufen. Es klingt so, als wäre sie hier in meiner Wohnung, aber ich bin allein. »Spielst du in deinem Zimmer?« Die Stimme – oder ihre Besitzerin – schien näher zu kommen. Müssen wohl die Nachbarn sein, denke ich, wobei ich mich wundere, dass es hier so hellhörig ist.

»Ja, ich bin hier.«, antwortet eine kindliche Stimme direkt hinter mir. Ich fahre herum, in der Erwartung da einen kleinen Jungen zu erblicken, aber da ist niemand. Werde ich jetzt komplett verrückt? Der Tag war bisher schon wie ein sehr seltsamer Traum – vielleicht ist er auch genau das? –, aber jetzt zweifle ich endgültig an meiner geistigen Gesundheit.

»Ach, du spielst mit deinen Menschenfiguren.« Instinktiv schaue ich in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Jetzt klingt die Frauenstimme so, als käme sie aus der Wohnung schräg oben, aber viel klarer und nicht wie durch Wände hindurch. Mit meiner ausgestreckten Hand halte ich immer noch den Tisch in der Luft schwebend, den ich gerade an der Wand zerschmettern wollte, als die Stimmen einsetzten.

»Was machen sie denn, deine Men… TIVIAN!«, das letzte Wort sprach sie laut und mit scharfem, tadelndem Unterton aus. Meine Konzentration lässt schlagartig nach und der Tisch kracht auf den Boden. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du Magie nicht zum Spielen einsetzen sollst?« Mir wird etwas schwummrig und die Umgebung wird unscharf und verschwimmt nach und nach. »Sie ist eine Gabe«, setzt sie jetzt wieder freundlicher fort, während meine Beine versagen und ich zu Boden plumpse wie ein nasser Sack, »ein Geschenk, das nicht zum Zeitvertreib benutzt werden darf!«, höre ich die Stimme noch sagen, bevor alles undeutliches Gemurmel wird. Dann ist alles schwarz und still und schließlich nur noch Leere.

© Michael Hitzelberger, 22. März 2024

Bild: „Do you believe in magic?“ by OUCHcharley is licensed under CC BY-SA 2.0

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