Die Hütte am Meer

Er schaute aufs Meer hinaus. Seit dem Unfall vor drei Jahren war er nicht mehr hier gewesen, aus Angst, wie es sich anfühlen würde – ohne sie.

Sie hatten oft hier gesessen, auf der kleinen überdachten Veranda und aufs Meer geschaut. Manchmal stundenlang.

Er fuhr mit der Hand über die Bretter der Bank. An einer unebenen Stelle hielt er inne – er wusste genau, was das war. Isa und Fred 4ever – das hatte er eingeritzt, als sie zum ersten Mal hier gesessen hatten vor 17 Jahren. Kurz nachdem er die Hütte gekauft hatte. Es war ein Geschenk gewesen. Ein Geschenk, das er sich selbst zum 50. gemacht hatte – und natürlich Isabelle. Damals war Jonas gerade ausgezogen zum Studium und er hatte beschlossen, seinen und Isabelles Traum von einem Haus am Meer wahr zu machen. Das Haus war zwar eher ein Häuschen, oder besser gesagt eine Hütte, aber auf die Größe kam es nicht an.

Sie waren oft hier gewesen. An jedem Wochenende, an dem es möglich war, und auch den größten Teil ihres Urlaubs verbrachten sie hier, in ihrem kleinen Paradies.

Anfangs war Jonas auch ein paar mal mitgekommen und hatte ein Wochenende hier verbracht, aber mit der Zeit wurde das weniger. Wie überhaupt der Kontakt und die Besuche zuhause von Jonas weniger geworden waren. Nach dem Studium hatte Jonas sich in den Beruf gestürzt und beschlossen, Karriere zu machen. Er war zunehmend so eingespannt, dass sie ihn immer weniger sahen – in manchen Jahren nicht einmal zu Weihnachten. Familie hatte er keine und Beziehungen auch nur kurze, er arbeitete einfach zu viel.

Zur Beerdigung war Jonas dann auch nur kurz vorbeigeschneit und nach dem Leichenschmaus direkt wieder los – Termine. Dabei hatte er gehofft, Jonas würde ein paar Tage, oder wenigstens eine Nacht, bleiben. Er hatte Jonas angesehen, dass es ihm nicht gut ging – er sah gehetzt und ungesund aus.

Wann hatte er denn das letzte mal mit Jonas gesprochen? Das musste Monate her sein. Und auch da war es nur ein kurzes Gespräch gewesen. Sie hatten sich nicht mehr viel zu sagen.

Er war ja selbst auch nicht der gesprächigste. Isa war da ganz anders gewesen. Sie war ein fröhlicher, offenherziger Mensch und zog alle in ihren Bann. Wie eben damals auch ihn und es war ihm bis heute ein Rätsel, wieso sie sich in ihn verliebt hatte. Ausgerechnet in ihn, den wortkargen, etwas verschlossenen – manche würden vielleicht sagen ‘mürrischen’ – jungen Mann, der er damals war. Und über die Jahre hatte sich daran nicht viel geändert.

Einmal hatte er sie gefragt – kurz vor ihrer Hochzeit – wieso sie ihn gewählt hatte, und sie hatte geantwortet: “Weil du mein Fels in der Brandung bist, meine Erdung, mein Anker! Wie könnte ich so frei, offen und lebendig sein, wenn ich dich nicht hätte? Du erlaubst mir so zu sein wie ich bin. Und dafür liebe ich dich!”

Und er liebte sie! Von Tag zu Tag mehr, und dieser Ort hier, diese kleine Hütte am Meer, sie war Ausdruck und Schauplatz ihrer Liebe zugleich. Hier hatten sie die schönsten Stunden verbracht. Die Zeit in ihrer Wohnung in der Stadt war eigentlich nur ein Warten darauf gewesen, wieder hierher fahren zu können, in ihr Reich, ihren Kokon.

Auf einmal war sie weg! Von einem Moment auf den anderen aus dem Leben gerissen – aus seinem Leben gerissen, und er war wie versteinert. Nach ein paar Tagen hatte er versucht, wieder arbeiten zu gehen, aber es hatte keinen Sinn gehabt. Er ließ sich zunächst krankschreiben und nach ein paar Monaten ging er in Vorruhestand. Er lebte wie in einem Traum, wie in Trance, als wäre er in Zeitlupe und die Welt im Schnelldurchlauf. Die Tage verrannen und er bemerkte es kaum.

Als er feststellte, dass so schon drei Jahre vergangen waren, fasste er einen Entschluss. Er konnte und wollte so nicht weiterleben. Das war ja kein Leben! Also war er hergekommen, um zu sterben. Er hatte eine Packung Schlaftabletten und eine Flasche Whiskey dabei – das sollte reichen. Hier wollte er es tun. Noch einmal aufs Meer schauen, noch einmal an dem Ort sein, an dem er am glücklichsten gewesen war.

Während er hier saß und aufs Meer hinaus sah, lauschte er dem Wind. Bildete er sich das ein oder war das in seinem Kopf? Er glaubte eine Stimme im Wind zu hören – ihre Stimme!

»Ich bin hier!«

Das konnte doch nicht sein! Wurde er jetzt schon verrückt?

»Ich bin hier, Fred, bei dir!«

»Oh Isa!«, flüsterte er. Eine Träne lief über seine Wange. »Oh Isa, du fehlst mir so!«

»Ich bin die ganze Zeit bei dir Manfred! Was tust du nur?«

Jetzt konnte er die Tränen nicht mehr zurückhalten und begann zu schluchzen. »Ich habe dich gesucht!«, rief er in den Wind. »Wieso hast du mich alleine gelassen?«

»Meine Zeit war gekommen, Fred. Du weißt doch: Die hellste Flamme verbrennt am schnellsten. Und bei Gott, ich weiß, dass ich die hellste aller Flammen war!«

Sein Schluchzen ebbte ab und er hob den Kopf. »Oh ja, du warst wahrlich die hellste Flamme. Du warst meine Sonne! Und jetzt bin ich wie ein verlorener Planet, der einsam durch das Weltall treibt.«

»Du bist kein verlorener Planet, du bist eine beständige Flamme, du hältst das Feuer am Laufen für lange Zeit. Und jetzt musst du für Jonas brennen, er braucht dich. Hast du nicht gesehen, wie schlecht er an der Beerdigung ausgesehen hat? Also krieg deinen Hintern hoch und kümmer' dich um ihn!«

Er schniefte und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen ab. »Aber wie soll ich das ohne dich schaffen?«

»Das musst du doch gar nicht! Ich bin immer bei dir. In deinen Erinnerungen, deinen Gedanken und deinen Gefühlen. Und wenn du mich doch brauchst, dann bin ich hier und warte auf dich.«

Er schwieg. War er bereit dazu, der Realität ins Auge zu sehen? Zu akzeptieren, dass er den Weg jetzt alleine weitergehen musste? Bisher war er wie ein ausgesetzter Hund einfach an der Stelle liegen geblieben, an der sie ihn zurückgelassen hatte. Er straffte sich. »Du hast ja Recht. Ich habe mich lange genug in Selbstmitleid gesuhlt.«

Mit einem Ruck stand er auf und ging in die Hütte. Er nahm die Packung mit den Schlaftabletten, die auf dem Tisch lagen, und warf sie energisch in den Mülleimer in der Ecke. Danach zog er den Stöpsel aus der Whiskey-Flasche, nahm einen tiefen Schluck, drehte sich um und goss den Rest in die Spüle. Er schaute dabei zu, wie die goldene Flüssigkeit im Ausguss verschwand.

Sie hatte es wieder einmal getan. Sie hatte ihn aufgeweckt, mitgerissen, angesteckt. Gleich morgen früh würde er zu Jonas fahren, um für ihn da zu sein. Aber heute Abend würde er noch die Zeit hier genießen, draußen auf der Veranda, auf ihrer Bank – gemeinsam mit Isa. Denn sie hatte ihm gezeigt, dass er nicht hergekommen war, um zu sterben. Er war gekommen, um endlich wieder zu leben!

© Michael Hitzelberger, 2. Januar 2022

Bild: „Morning Ocean View“ von cogdogblog ist lizenziert unter CC BY 2.0

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